Gnosis

(Griech., Wissen), bezeichnet ganz allgemein ein Wissen um göttliche Geheimnisse, das einer Elite vorbehalten ist. Dieses Wissen wird durch ein Erkennen erfasst, das im schauenden Einswerden mit dem Gegenstand der Erkenntnis besteht. Gegenstand der Erkenntnis sind die von Gott ausgehenden Zwecke und Gesetze der Welt und des menschlichen Lebens. Gott selbst ist unerkennbar. Er ist transzendent und daher antikosmisch. Er wird von Wesen (Äonen) umgeben, die aus ihm hervorgehen und mit ihm das Pleroma (die Fülle) bilden.
Eine Gestalt am Rande des Pleroma, meist die Sophia (Weisheit), fällt einer Krise anheim, da sie es nicht schafft, Gott zu erkennen oder seine Schaffenskraft nachzuahmen. Als Folge dieses Scheiterns entstehen der Weltschöpfer (Demiurg) und seine Helfer (Archonten), Materie, Kosmos und Protoplast (Lebenssubstanz), in den ein pleromatischer Funke gelangt. So besitzt der Mensch – als Protoplast mit pleromatischem Funken – einen Wesenskern, ein Selbst, das nicht dem Tod verfallen ist. Dieses Selbst, ein Organ des Erkennens, befindet sich infolge der anfänglichen göttlichen Katastrophe im Zustand der „Selbstvergessenheit“, da Zwänge wie astrologische Gesetze und Sexualität den Weltmächten ihre Herrschaft erhalten. Das Selbst kann daher nur durch einen überweltlichen Eingriff in Form einer Selbstgewisswerdung freigesetzt werden. Dies kann auf zweierlei Weise erfolgen: Entweder ersucht der Mensch kraft seines Selbst sein jenseitiges Selbst um Befreiung, oder das jenseitige Selbst erleuchtet das durch die Körperlichkeit im Menschen eingesperrte Selbst und ermöglicht ihm dadurch die Erkenntnis, die Gnosis, und somit die Befreiung. Die gnostische Erlösung ereignet sich daher, wenn eine Geistkraft als Selbst des Pleroma das menschliche Selbst an sich selbst erinnert.
Tappt man auch trotz vieler Quellen sowohl über die soziale Zugehörigkeit als auch über die religiöse Herkunft der Gnostiker immer noch völlig im Dunkeln, so verbindet doch alle gnostischen Gruppen folgendes Welt- und Menschenbild:
– die Grundvorstellung vom
 Dualismus einer dämonisch-bösen Welt und eines fernen, unbekannten transzendenten Gottes,
– die Grundvorstellung der 
Gefangenschaft und des Ausgeliefertseins des pneumatischen Seelenkerns an die Mächte dieser Welt,
– die Grundvorstellung vom 
Empfang der Gnosis und dem eschatologischen Aufstieg des „Selbst“ zum göttlichen Ursprung.

Damit wird auch der Satz verständlich: „Gnosis ist die Erlösung des inwendigen Menschen.“
Gnosis ist also Erlösung. Erlösung ist Herstellung des ursprünglich glücklichen Zustandes des Menschen und des Kosmos, wie dies besonders in den beiden für die Gnosis repräsentativen Systemen des Valentinianismus (2. Jh.) und Manichäismus (3. Jh.) zum Ausdruck kommt.
Bekanntlich übte die Gnosis auch auf das Christentum einen nicht geringen Einfluss aus und umgekehrt. So wurde Christus in die gnostische Gestalt vom erlösten Erlöser übergeführt, wobei man in einer Deutung sogar eine Teilung seiner Gestalt in zwei Gestalten vornimmt, nämlich den irdischen Jesus und den himmlischen Christus. Das heißt, Jesus ist die vorübergehende Erscheinung in Menschengestalt des himmlischen Christus.
Als besondere Merkmale können also genannt werden:
– Eine völlige Trennung zwischen Urgott, Zwischenwesen und materieller Welt.
– Das 
Selbst lebt im Sinne eines radikalen Dualismus als Gefangener in der als prinzipiell böse geltenden Materie.
– Die 
Schöpfung der Körperwelt dient nicht der Verherrlichung Gottes und stammt auch nicht vom Urgott, sondern von einem Zwischenwesen (Demiurg).
– Der
 Erlöser, ein Geistwesen, ruft den vom göttlichen Pneuma durchdrungenen Menschen auf, an der Überwindung der materiellen Welt mitzuwirken.
– Die 
menschliche Seele hat als Geistwesen und Teil der göttlichen Substanz präexistiert, ehe sie, ihre wahre Natur vergessend, in den Körper einging, allerdings mit nur dem Wissenden bewussten Auftrag, die Körperwelt als Illusion zu erkennen und zugunsten ihrer geistigen Urheimat aufzugeben.
– 
Verschiedenheit des höchsten Gottes vom Weltschöpfer.
– Annahme von Äonen, von Kräften und himmlischen Wesenheiten, in denen sich die absolute Gottheit entfaltet.
– Annahme, dass die gegenwärtige Welt aus einem widergöttlichen Unternehmen (Sündenfall) entstanden ist und das Produkt eines bösen oder mittleren Wesens sei.
– Das Zweiteilen von Jesus Christus in den himmlischen Äon Christus und in die menschliche Erscheinung desselben als Jesus.
– Die Annahme eines von Natur gesetzten Unterschiedes der Menschen in
Pneumatiker (die Geisterfüllten), Psychiker (die von den psychischen Kräften Beherrschten), Somatiker (die vom Leib Beherrschten) und Hyliker (die von der Materie Beherrschten).
– Die Annahme der Erlösung durch Erkenntnis.
– Die Annahme der Präexistenz der Seelen.

Die angeführten Gedanken der Gnosis haben bis heute ihre Faszination behalten, vor allem der Dualismus und der Monismus.

Lit.: Rudolph, Kurt: Gnosis und Gnostizismus. Darmstadt: Wiss. Buchges, 1975; Leisegang, Hans: Die Gnosis. Stuttgart: Kröner, 1985; Brox, Norbert: Erleuchtung und Wiedergeburt: Aktualität der Gnosis. München: Kösel, 1989.
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