Sanskr. ayur, Leben; veda, Wissen; das „Wissen vom Leben“, ist das größte, noch vollständig existierende, traditionelle Heilsystem der Welt, das seine Wurzeln in den „heiligen“ hinduistischen Sanskrit-Schriften hat. Veda enthält als Wissen die Kenntnisse der übernatürlichen Mächte und der Methode, diese zu beeinflussen. Dieses Wissen ist nach indischer Überlieferung ewig. Vor der Gottheit nur formuliert, von den Sehern „geschaut“, entstand es vor allem in brahmanischen Sängerfamilien und wurde in den Schulen der Brahmanen lange Zeit nur mündlich überliefert. In allen vier Veden (Rigveda, Samaveda, Yajurveda, Atharvaveda) sind Hinweise auf heilkundliche Konzepte enthalten.
Ursprünglich ist A. der Name für einen Anhang des > Atharvaveda, einer Sammlung von Texten, die mit der Funktion des Hauspriesters zusammenhängt, gefährliche Mächte abzuhalten und Gutes zu bewirken, z.B. Heilung von Krankheiten, Segenssprüche, Entsühnungsformeln, Harmonisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch durch Flüche und Beschwörungen Gegnern zu schaden.
Das aus dem Nordwesten Indiens stammende medizinische System des A. fußt in seinen Darstellungen auf den Werken der drei Ärzte Caraka, Susruta und Vagbhata, deren Leben wenig bekannt ist.
Caraka (sanskr., „der Wanderer“) schrieb das Werk Caraka-Samhita (sanskr., Sammlung des Caraka) spätestens in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten, das in der vorliegenden Fassung jedoch im 4./5. Jh. noch einmal überarbeitet wurde. In den insgesamt 8 Büchern werden grundsätzliche Prinzipien und Diätetik, Ursache von Krankheiten, Diagnosen, Embryologie und Anatomie, Prognose, Arzneimittelbereitung und physikalische Therapieverfahren behandelt.
Susruta stellt in den 6 Büchern seines Werkes Susruta-Samhita, das ebenfalls spätestens in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten verfasst und etwa im 4. Jh. noch einmal überarbeitet wurde, die kleine und die große Chirurgie an den Anfang. Es darf hier nicht vergessen werden, dass diese Textsammlungen nur Anhaltspunkte für die mündliche Unterweisung waren. Zudem stellen beide Endpunkte einer langen Tradition dar.
Von Vagbhata, der vor 850 n. Chr. gelebt hat, stammt das Werk Astangahrdaya (sanskr., Das achtgliedrige Herz), das zum Standardwerk der indischen Medizin wurde. Man kann es als eine Zusammenfassung der Werke seiner beiden Vorgänger betrachten. Da es einen buddhistischen Einschlag enthält, wurde es sehr früh in das Tibetische übersetzt.
Nach den Vorstellungen dieser Ärzte soll das Leben in seiner Gesamtheit als das Zusammenspiel des Körpers, der Sinnes- und Handlungsorgane, des Geistes und der Seele, verstanden werden.
Bereits in diesen ältesten ayurvedischen Lehrtexten sind die meisten Grundsätze formuliert, nach denen ayurvedische Ärzte auch heute noch diagnostizieren und behandeln.
A. gliederte sich in klassischer Zeit in acht Untergebiete:
1. Innere Medizin
2. Behandlung der Krankheiten oberhalb des Schlüsselbeins, wozu auch die Staroperationen gehören
3. Entfernen von Fremdkörpern: Chirurgie
4. Behandlung von Vergiftungen
5. Wissen von Dämonen und Besessenheit
6. Kinderheilkunde
7. Verjüngende Elixiere
8. Aphrodisiaka
Dabei wird der Mensch grundsätzlich in Analogie zum Kosmos gesehen. Unter einer grobstofflichen Oberfläche (annamaya kosha) finden sich im Mikro- wie im Makrokosmos die gleichen Schichten (koshas), insgesamt fünf bis hin zum existentiellen Kern, der beim Menschen > Jivan-Atman und im Kosmos > Param-Atman genannt wird. Im mittleren Kosha, der Schicht des Geistes (manomaya kosha), werden der feinstoffliche Körper und das Ich ausgebildet. Zwischen dem Geist (manah) und dem grobstofflichen Körper (sthula sharira) vermitteln die fünf Jinanendrivas (Wahrnehmungsorgane) und die fünf Karmendriyas (Handlungsorgane). Zu den Wahrnehmungsorganen gehören der Geruchs- und Geschmacksinn sowie das Tast-, Seh- und Hörvermögen. Zu den Handlungsorganen zählen das Ausscheidungs-, Fortpflanzungs-, Handlungs- und Sprechvermögen.
Der grobstoffliche Körper besteht aus fünf elementaren Zuständen – fest, flüssig, feurig, gasförmig und ätherisch –, die als die fünf großen Elemente bezeichnet werden.
Diagnose und Therapie basieren im A. auf dem System der drei dynamischen Prinzipien (> dosha), die mit drei Grundeigenschaften (> guna) des Materie-Prinzips (> prakriti) in Verbindung gebracht werden: Krankheit entsteht, wenn mehrere doshas zu stark oder zu schwach wirken. Die Heilmittel, deren Wirkung vor allem mit Hilfe ihres Geschmacks (rasa) bestimmt wird, wirken verstärkend oder abschwächend auf die doshas und können zur Harmonisierung des Organismus beitragen.
Was den psychischen Bereich betrifft, so übernahm A. teilweise die im > Yoga entwickelten Kenntnisse. Danach wird der Geist durch drei Eigenschaften beeinflusst: sattwa bewirkt Leichtigkeit, Klarheit und Freude; rajas erregt die Begehrlichkeiten und Sehnsüchte; tamas führt zu geistiger Inaktivität, Dunkelheit und Schwere.